(9) Bei Byron

Leo fand sich pünktlich um 11 Uhr bei Byron ein. Sie kannte den Billard-Salon seit ihrer Jugend, als sie mit dieser Art Sport neben dem KungFu begann. Hinter der Theke stand Maxwell Blyden, dem der Laden allein gehörte, seit sein Partner Byron von einem Straßensamurei versehentlich für einen anderen gehalten worden war. Der Straßensamurei war kurze Zeit später ein toter Straßensamurei. Man ging weiterhin zu Byron, weil Byron derjenige gewesen war, der den Laden zuerst hatte und niemand sagen wollte, daß er zu Max gehe, weil jeder das Gefühl hatte, dadurch Byrons Tod eine Endgültigkeit zu verleihen, die einfach nicht wünschenswert war. Max nahm es niemandem übel, daß man weiterhin zu Byron ging.
Der Wirt spülte Gläser und lächelte, als Leo den großen Raum mit der langen Theke betrat. "Hi, Leo, wie geht es dir?" fragte er fröhlich.
"Frag mich nicht, Max. Ich müßte lügen. Ist Rain schon da?"
Er nickte in Richtung der Tür rechts neben der Theke. "Er und Jamie. Was soll ich dir bringen?"
"Kaffee." Sie zog den Reißverschluß ihres leichten Ledermantels auf.
"Ok, Kaffee, 3 Stück Zucker, schwarz, eine Messerspitze Kakao, 1 Priese Salz. Kommt sofort."
Max sah an Leos linker Hüfte die Schwertscheide. "Noch nicht viel los hier", sagte sie und drückte die Klinke der Tür nach unten.
"Noch zu früh", erwiderte Max.
Leo öffnete die Tür und verschwand in dem Raum dahinter. Sie begrüßte Rain und Jamie und setzte sich in einen braunen Ledersessel, der sich mit einem zweiten Sessel und einem passenden Sofa einen winzigen Tisch teilte.
"Wer kommt noch?" fragte sie.
"Pris", antwortete Jamie, ohne Leo anzusehen.
"Wie geht es dir, Leo?" fragte Rain und nahm einen Schluck aus einem Glas. "Etwas müde siehst du aus. Wir haben uns lange nicht gesehen." Er lächelte süffisant.
Leo lächelte zurück. Von Rain kam die Frage nach dem Befinden anderer eher selten. Er interessierte sich nicht sonderlich für die Belange anderer. Rain war jemand, der tötete, ohne mit der Wimper zu zucken. Damit verdiente er sich seinen Lebensunterhalt wie andere dies durch Büroarbeit taten oder wie Leo mit ihren Uhrenreparaturen. Sie hatte viel von Rain gelernt, im letzten Jahr. Vor allem hatte sie gelernt, daß es im Job des Runners nur ums Überleben ging. Der größte Fehler, den man begehen konnte, war, zuviel darüber nachzudenken, was man tat. In bestimmten Situationen zu zögern, war in jedem Fall tödlich. Leo mochte Rain, obgleich er als Kopfgeldjäger einem Geschäft nachging, das sie nicht nachvollziehen konnte. Aber Rain war aufrichtig und ehrlich, und sie konnte sich darauf verlassen, daß er da sein würde, wenn sie ihn brauchte.
Das liebte sie an diesen Menschen, mit denen sie hin und wieder auf einen kleinen Run ging. Es waren die einzigen, denen sie neben Cheng Pei Pei blind vertraute. Das Vertrauen, das man einem anderen gegenüber schenken mußte, wenn man selbst plötzlich erblindete.
Pris betrat den Raum. Ihr folgte ein Mann in einem schwarzen Anzug, der ihr die Tür aufgehalten hatte, die er auch weiterhin aufhielt, als Max mit einem Tablett voller Gläser und Flaschen hereinkam. Der dicke Wirt stellte das Tablett auf dem winzigen Tisch ab, so daß dieses die gesamte Tischplatte einnahm. Wortlos verließ Max den Raum. Der schwarze Anzug schloß die Tür hinter ihm.
"Meine Damen, meine Herren, mein Name ist Johnson:" Er grinste ironisch.
Rain nickte nur. Leo sagte: "Hi." Jamie sah ihn aus finsteren Augen an und Pris bediente sich mit einer Flasche Burbon.
Mr. Johnson steckte einen Umschlag zwischen die Gläser. "Es handelt sich um ein kleines Büro in einem hohen Gebäudekomplex in der Kensingtonstreet. Gehen Sie in dieses Gebäude, suchen Sie ein bestimmtes Büro auf und nehmen sie aus dem Safe ein schwarzes Metallkästchen. Was sich darin befindet, hat sie nicht zu interessieren. sie sollten es also tunlichst vermeiden, das Kästchen zu öffnen. Falls sie es doch tun, wird dies der letzte Auftrag in ihrem Leben sein. Wenn Sie im Besitz des Kästchens sind, melden Sie sich unter der Nummer, die sich im Umschlag befindet. Wünsche noch einen guten Tag, die Damen und die Herren." Johnson drehte sich mit um und verließ den Raum.
Die Gruppe sah ihm schweigend nach. Es dauerte einige Sekunden, bis Rain die Stille brach. "Hat er nicht irgendwas vergessen?"
"Unsere Kohle?" kam es von Jamie.
Leo und Pris sahen sich an und begannen beide zu lachen. "Was war denn das für'n Typ?" rief Pris.
"Vielleicht ein ganz schlauer", antwortete Leo, beugte sich vor und nahm den Umschlag. Sie öffnete ihn und zog zwei Blätter daraus hervor. "Eine Straßenskizze der Kensingtonstreet, Delta-Graphics Corporation, 17. Stock", las sie vor. "Hier ist ein zweiter Zettel. Ah, ja, da kommen wir dem ganzen schon näher. Hier steht: Mit Leichen 20.000 Nuyen, ohne Leichen 40.000. Leo begann zu lachen. Die anderen fielen in das Lachen ein.
"Also, ich fühle mich ziemlich verarscht", bemerkte Jamie.
"Wieso?" fragte Rain. "Entweder wir machen den Job und kassieren 20 oder 40, oder wir lassen es, dann haben wir nichts. Pris?"
Die Gängerin zuckte mit den Schultern. "Warum nicht. Klingt nach leicht verdientem Geld."
"Also ich finde, daß er nicht wie jemand wirkte, der gerne gefährliche Leute verärgert, sondern wie einer, dem es ziemlich ernst ist." Leo hielt Rain die Zettel hin. Ich finde, wir sollten diesen Job machen und versuchen, die 20 auf jeden Fall zu verdoppeln." Sie lächelte Rain süffisant an und fragte ganz ruhig: "Hab ich dir schon mal gesagt, Rain, daß ich dich mag?"
Er wußte, daß sie darauf anspielte, wie schnell sein Finger manchmal eine schnellere Entscheidung treffen konnte als sein Kopf.

(8) The Flash

Flash hörte sich in aller Ruhe an, was Buzz zu sagen hatte. Und dann tat er alles, was Buzz gesagt hatte. Unten auf der Straße fand er Buzz' Auto, mit dem dieser im Moment nicht fahren durfte, weil man ihm vor einigen Monaten die Fahrerlaubnis entzogen hatte und es noch dauerte, bis er wieder fahren durfte.
Als Flash zu Jason fuhr, zu dem Buzz ihn geschickt hatte, kam es ihm falsch vor, den Wagen manuell zu lenken. Es wurde ihm plötzlich klar, daß er eigentlich mit dem Fahrzeug verschmelzen sollte. "Ich bin Rigger?" fragte er sich laut.
Als er bei Jason ankam und ihm seine Situation erklärte, in der er sich im Moment befand, fackelte der Elf nicht lange herum, sondern führte ihn in einen Raum mit mehreren technischen Geräten. Jason drückte Flash ein Kabel in die Hand und sagte: "Stöpsel das mal in deine Datenbuchse ein. Mal sehen, was du alles nicht vergessen hast."
Nach etwa zwei Stunden wußte Flash eine ganze Menge mehr über sich und seine Fähigkeiten, womit er allerdings soviel anfangen konnte wie ein Kleinkind, dem man einen Kubikwürfel in die Hand drückte, den es innerhalb von einer Minute zusammensetzen konnte, ohne zu wissen, warum es das konnte. Er beherrschte offensichtlich Englisch und Japanisch beides wie seine Muttersprache, wobei Japanisch dem Englischen zwar nur minimal, aber doch etwas nachstand. Spanisch und Französisch gehörten ebenfalls zu seinem Repertoire, allerdings nicht fließend. Er verfügte über geniale Geographiekenntnisse, die Jason verblüfften, weil Flash in der Lage war, von verschiedenen Städten der UCAS regelrechte Straßenkarten aufzeichnete, ohne den Namen der Städte nennen zu können. Seine Kenntnisse auf dem technischen Sektor bewegten sich vor allem im Bereich fahrbare Gerätschaften jeglicher Art, sogar im flugtechnischen Bereich. Die Matrix betreffend bewegte er sich darin wie ein Profidecker.
"Mögliche Berufe", murmelte Jason nachdenklich "könnten sein - Decker, Rigger, Ingenieur sowohl für Boden als auch Luft- und Raumfahrt. Vielleicht bist du auch Lehrer auf einem dieser Gebiete. Oder du arbeitest für einen Megakonzern in der Forschung. Du weißt eine Menge, Junge."
Was sie auch herrausfanden, war, daß Flash über ein so schnelles Reaktionsvermögen verfügte, wie Jason es noch bei niemandem gesehen hatte. Er hatte das Messer in die Hand genommen, weil er damit an einem dünnen Kabel die Kontakte säubern wollte, als es ihm aus der Hand rutschte. Es fiel nicht zu Boden, sondern landete so unglaublich schnell in der Hand des Mannes, der sich Flash nannte und dem Jason in den letzten zweieinhalb Stunden wenigstens so eine Art minimale Identität gegeben hatte, daß der Elf sich hinsetzte und ihn für einen Moment lang völlig irritiert anstarrte, als sei er einem Geist begegnet.
Flash sah die Erschrockenheit im Gesicht des Elfen und legte das Messer verlegen neben sich auf den Tisch. "Entschuldige", sagte er. "Es war nur so ein Reflex. Ich wollte dich nicht erschrecken."
"Du mußt eine Maschine sein", resumierte Jason. "Hast du das öfter?"
"Keine Ahnung", erwiderte Flash und grinste.
"Ich habe mal ein altes Comicheft in die Hand bekommen." Jason runzelte die Stirn. "In diesem Comic war die Hauptfigur "The Flash", der sich so schnell bewegen konnte wie der Blitz. Es wirkte auf den Zeichnungen immer so, als sei er nicht wirklich vorhanden, wenn er so schnell war. Als du das Messer aufgefangen hast, habe ich nichts gesehen. Ich denke zumindest, daß Flash der richtige Name für dich ist. Ich gebe dir eine Adresse. Fahr dort hin und laß dich von Ido von Kopf bis Fuß untersuchen. Niemand ist so schnell wie du, ohne irgendwas in seinem Körper eingebaut zu haben. Aber die Frage ist, was man dir eingebaut hast. So schnell kann ein Mensch eigentlich nicht sein, daß man seine Bewegung nicht mehr verfolgen kann."

(7) Nachricht von Rain

Ihre Taschenuhr zeigte zwei Uhr, als sie Dr. Treese verließ. Sie hatte ihn noch eine ganze Weile festgehalten, als sie sich zum Abschied umarmten. Für Leo war das Zusammensein mit Adam wie der Aufenthalt an einer Tankstelle. Er gab ihr die Menge an Kraft, die sie benötigte, um in den nächsten zwei bis drei Wochen gut zu funktionieren, bevor sie das Bedürfnis verspürte, wieder zu ihm zu fahren. Manchmal sprachen sie auch nicht miteinander. Dann spielten sie nur Schach und tranken etwas Wein.
"Eigentlich rede nur ich", sagte Leo, als sie die Interstate bereits wieder verlassen hatte. "Adam sagt fast nie etwas. Früher hat er viel mehr gesagt, weißt du." Leo sprach mit Honnecker. Wenn niemand mit im Auto saß, und das kam höchst selten vor, dann sprach Leo mit Honnecker. Sie sprach auch mit ihrem Großvater, der schon seit drei Jahren tot war. Und ganz selten sogar immer noch mit Gordon. Aber nur, wenn es unbedingt notwendig war. Leo hielt sich für verrückt. Deshalb trug sie grundsätzlich, wenn sie in der Öffentlichkeit unterwegs war, ein Headset. Damit es nicht auffiel, daß sie mit sich selbst sprach.
Sie erinnerte sich an die ersten zwei Jahre, in denen sie zu Treese gegangen war. Es war auch vorgekommen, daß sie in den Sitzungen gar nichts gesagt hatte. Adam auch nicht. Plötzlich mußte Leo lachen. "Echt verrückt", sagte sie und hielt ihren linken Arm nach draußen. Der Blinker funktionierte seit einigen Tagen nicht.
"Was mach ich nur, wenn Adam stirbt?" Dieser Gedanke kam ihr nicht zum ersten Mal. "Dann geht das Leben weiter, Leo", gab sie sich selbst die Antwort.
Ihr Handy teilte ihr mit, daß sie eine Nachricht erhalten hatte. Sie bog in die kleine Straße ab, in der sie mit ihrem jüngsten Bruder Sammy ein winziges Häuschen teilte. Ihre Wohnung lag über dem ehemaligen Uhrmachergeschäft, das zuerst ihr Großvater, dann ihr Vater und später sie selbst lange Zeit geführt hatte. Jetzt lagerte eine kleine Elektrofirma für 700 Nuyen ihre Waren in dem alten Geschäftsraum.
Im ersten Stock des Hauses brannte Licht. Leo stieg aus dem Wagen, nahm ihre Tasche vom Rücksitz und drückte die Tür des alten Honnecker zu. Sie schloß das Auto nicht ab. Niemand würde ihn stehlen, weil er von außen aussah, als würde er jeden Augenblick zusammenfallen. Außerdem hatte ihr Vater sich links unter dem Fahrersitz einen Schalter einbauen lassen, dem man betätigen mußte, bevor man den Motor starten konnte, ohne eine Alarmanlage in Gang zu setzen, die halb Seattle alarmierte. Mehrfach hatte man versucht, mit dem Auto davonzufahren, aber der Dieb war jedesmal ohne Auto geflüchtet.
Manchmal, als Leo und Gordon noch ganz klein waren, und sie mit den Eltern durch die Gegend gefahren sind und die Alarmanlage noch neu war, vergaß der Vater den Hebel umzustellen, wenn sie nach einem Aufenthalt weiterfuhren. Alle Leute in der Nähe erschraken fast zu Tode. Der Alarm erinnerte an die Sirene einer Fabrik, wenn Feierabend war. Einige Jahre später hatte die Anlage einen Wackelkontakt. Aus heiterem Himmel ging der Alarm los und war manchmal Minuten lang nicht zu stoppen. Leos Vater hantierte nervös an dem Hebel herum, die Mutter sah sich ständig nach aufgebrachten Leuten in der Nähe um, weil ihr das ganze total peinlich war und Leo und Gorden hielten sich die Ohren zu. Und wenn der Großvater auch noch im Auto saß, heulte er mit dem Alarm im Chor.
Leo schmunzelte bei dieser Erinnerung und fragte sich, warum man heutzutage immer noch "aus heiterem Himmel" sagte, wo doch der Himmel gar nicht mehr heiter war.
Sie las die Nachricht von Rain, als sie auf das Haus zuging. Morgen, 11:00 Uhr bei Byron. Habe Job für dich, Gruß Rain. Sie steckte das Handy ein und schloß die Haustür auf. Drinnen brannte Licht. Sie schloß dreimal hinter sich ab und legte den eisernen Riegel vor, der über die gesamte Türbreite ging. Sie stieg die schmale Trappe hinauf, die am ehemaligen Laden vorbeiführte, registrierte, daß der Treppenaufzug sich oben befand, stellte ihre Tasche im Flur ab und ging direkt in die Küche.
Es brannte Licht, aber niemand befand sich im Raum. Aus dem Kühlschrank holte sie eine Flasche Milch und stellte sie auf den Tisch, auf dem noch das Geschirr vom Nachmittag stand, das Sammy wie üblich hatte stehen lassen. Sie nahm ein Glas aus dem Schrank und füllte es mit Milch. Langsam trank sie im Stehen das Glas leer.
Habe Job für dich, rief Leo sich Rains Nachricht ins Gedächtnis. Das war genau das, was sie brauchte. Einen Job, mit dem sie schnell viel Geld verdienen konnte. Sie hoffte, daß es nicht wieder so ein Job wie beim letzten Mal war, von dem sie fast nicht zurückgekommen wäre. Leo räumte das Glas in die Spüle und die Flasche zurück in den Kühlschrank, knippste das Licht aus und ging ins Wohnzimmer, in dem ebenfalls Licht brannte. Niemand befand sich darin.
Sie ging weiter zu Sammys Zimmer, klopfte kurz, horchte und öffnete dann leise die Tür. Ihr Bruder lag in seinem Bett und schlief. Eine Nachttischlampe warf einen sanften Lichtschein auf das entspannte Gesicht. Der alte Rollstuhl stand direkt neben dem Bett. Auf der Sitzfläche lag fein säuberlich zusammengefaltet die Kleidung, die er an diesem Tag getragen hatte. Wenn Leo nicht zuhause war, ließ Sam immer alle Lichter brennen. Das Licht an seinem Bett blieb die ganze Nacht über an.
Leo ging nach oben in den zweiten Stock und in den Teil des Hauses, das sie ihr kleines Reich nannte. Es gab dort ihr Zimmer, ihre Werkstatt und gleichzeitiges Arbeitszimmer, sowie ein kleines Bad. Im Flur zog sie ihre Stiefel aus, dann die Strümpfe und ging barfuß ins Arbeitszimmer. Ohne zu zögern setzte sie sich an den großen Werktisch und begann die kleine, alte Damenarmbanduhr weiter zu reparieren, die sie bis morgen Mittag fertig haben mußte. Es wurde halb fünf, bevor sie schlafen ging.

Leo hatte nur knapp drei Stunden geschlafen. Sie lag wach in ihrem Bett und dachte über das Schachspiel mit Adam Treese nach. Sie fragte sich, wie sie es je schaffen sollte, ihn von ihrer Theorie zu überzeugen, mit deren Hilfe für sie alles Geschehene der letzten 13 Jahre plausibel erklärbar war. Leo war nicht verrückt, daß wußte sie. Aber sie wußte nicht, ob Adam sie für verrückt hielt. Sie war sich einfach nicht sicher. Manchmal.
Sie setzte sich auf und rieb sich kurz das Gesicht. Fröstelnd zog sie sich hastig eine Hose und einen Wollpullover über. Sie schlüpfte in ihre Stiefel und trat auf das Fenster zu. Sie zog die schweren Samtvorhänge auf. Der alte Stoff roch nach Staub und vergangener Zeit. Schon Leos Großeltern hatten diese Vorhänge in diesem Zimmer vor den Fenstern hängen, in dem sie ihr Büro hatte. Draußen dämmerte es. Niemals würde sie das kleine Häuschen gegenüber dem winzigen Park aufgeben wollen. Es gab nicht viele Möglichkeiten für einen solchen Ausblick in Seattle. Vielleicht in Bellevue, wo die Villen standen. Dort, wo sich auch das riesige Anwesen von Josua Grüning befand, in dem dieser seine und Leos Uhrensammlung hütete wie einen Schatz.
Leo kannte den alten Sammler seit ihrer Kindheit. Ihr Großvater Hazel Pinkerton und Grüning waren schon während der Schulzeit beste Freunde gewesen und blieben es, bis Hazel vor drei Jahren starb. Sein Nachlaß, den er komplett Leo überließ, bestand aus einer Sammlung von ca. 50 Taschenuhren sowie Armbanduhren unbekannter Zahl, die Grüning ebenfalls bei sich aufbewahrte. Leo war ihm sehr dankbar, da das Anwesen fast so gut bewacht war wie der Hochsicherheitstrakt mancher Konzerngebäude.
Es gab so viele Dinge, die ihr durch den Kopf gingen, weshalb sie so oft schlaflose Nächte in ihrem Bett oder an ihrer Werkbank verbrachte. Die kleine Armbanduhr lief wieder und zeigte 7:39 Uhr. Leo sah auf ihre Taschenuhr, um zu prüfen, ob die Zeit stimmte. Noch zwei Stunden, bis sie los mußte, um gegen 11 Uhr bei Byron zu sein. Barfuß ging sie nach unten in den ersten Stock, um in der Küche Kaffee aufzusetzen.
Sammy saß am Küchentisch und las in einem Buch. Er las beim Essen immer in einem Buch. So, wie Leos Welt hauptsächlich aus Uhren bestand, so bestand Sams Welt aus Büchern. Er erlebte nicht sein Leben, sondern las sein Leben. Leo konnte ihm nicht helfen, weil er sich nicht helfen lassen wollte. Er war seit seinem Motorradunfall noch verschlossener als vor dem Unfall. Jetzt fühlte er sich als Krüppel und war der Meinung, daß er für nichts und niemanden mehr nützlich sei. Er konnte für sich selbst sorgen. Hin und wieder schrieb er billige Geschichten für schmuddelige Online-Magazine, um ein paar Nuyen zu dem bißchen dazu zu verdienen, das Leo für die Reparatur von Sammleruhren bekam.
Wenn Sie auf einen Run ging und manchmal mehrere Tage fortblieb, fragte er nach ihrer Rückkehr nicht danach, womit sie sich das Geld verdient hatte, das sie nach Hause brachte. Manchmal kam es auch vor, daß die beiden sich tagelang nicht sahen, obgleich sie sich im selben Haus aufhielten. Das geschah immer dann, wenn Leo sich in ihrer Werkstatt mit ihren Depressionen zusammen einschloß und Briefe an Gordon, ihren toten Zwillingsbruder schrieb.

(6) Drittes Erwachen

Als Flash wieder aufwachte, war es Tag. Über einer Stuhllehne entdeckte er seine völlig ausgeblichene Jeans, die früher mal blau gewesen war, und nun heller als der Himmel von Seattle. Er schlüpfte in die offensichtlich frischgewaschene Hose und zog sein weißes T-Shirt über. Unter dem Stuhl standen ein paar Bikerstiefel, von denen er genau wußte, daß sie nicht ihm gehörten, die er aber getragen hatte, als er sich neben dem Müllhaufen wiedergefunden hatte.
Er ließ die Stiefel stehen und begab sich barfuß in den Flur. Es war so still, daß Flash das Gefühl hatte, sein Herz klopfen zu hören. Er sah nur kurz in den Raum gegenüber seinem Zimmer. Niemand war darin. Flash ging den Flur entlang, die Treppe hinunter und landete unten in einer Küche, die der Treppe gegenüber lag. Auf dem Küchentisch fand er einen Zettel. Buzz hatte ihm aufgeschrieben, daß Flash sich aus dem Kühlschrank bedienen könne und er gegen Mittag wieder da sei.
Er fragte sich, wie spät es sein mochte und sah augenblicklich das rote Display mit der Uhrzeit in seinem rechten Auge. 09.21.0576325
Flash warf einen Blick in den Kühlschrank und betrachtete eine Weile den recht spärlichen Inhalt. Er nahm lediglich einen Becher Joghurt und eine Flasche Milch heraus. Die restlichen Nahrungsmittel waren ihm sehr suspekt, zumal er sich nicht daran erinnern konnte, solcher Art Lebensmittel regelmäßig zu sich genommen zu haben. Er sah ein Bild vor Augen, in dem er offensichtlich an einem reichhaltig gedeckten Tisch saß.
Er ging wieder nach oben in den Raum mit dem blauen Sofa, stellte den Joghurt und die Milch ab und schaltete mit einer Fernbedienung, die auf dem Tisch lag, das Trideo ein, das sich an der gegenßüber liegenden Wand befand. Auf dem Bildschirm tauchten Bilder auf. Er tippte so lange auf den Tasten herum, bis er einen Nachrichtensender fand. Es gab die üblichen Meldungen: Hier eine Schießerei, da ein ungeklärter Unfall, in den vermutlich eine Straßengang verwickelt war, die man schon seit längerem verschiedener Unfälle verdächtigte. Irgendwo hatte es eine Explosion gegeben, bei der drei Menschen und ein Ork getötet worden waren. Es wurde kurzfristig der Ort des Geschehens gezeigt, der eine der Leichen mit zerfetzten halben Beine zeigte. Sie waren offensichtlich weggesprengt. Flash stellte fest, daß die Bilder ihn nicht im Geringsten berührten. Er hatte ganz andere Dinge gesehen. Dinge, die mit denen auf dem Bildschirm kaum zu vergleichen waren.
Er begann wieder auf den Knöpfen der Tastatur herumzuspielen und blieb an einem Bild hängen, das eindeutig einen Zugangscode zum Netz verlangte. Flash zog die Tastatur näher zu sich heran und tippte ohne zu zögern eine Zahlen- und Buchstabenkombination ein. HSP.02.10.77. Er wußte, daß er diesen Code benötigte, um direkt dorthin zu gelangen, von dem er nicht wußte, was es war. Flash landete auf einer Seite, die ihm blinkend die Meldung "Default" brachte. Die gesuchte Seite war nicht aktiv.
"Scheiße", zischte er und gab über eine Suchmaschine den Begriff "Amnesie" ein. Er erhielt 1.589.736 Einträge. Flash schränkte die Suche durch das Zufügen des Begriffes "totale" ein. Es blieben 2.942 Einträge übrig. "Na klasse", fluchte er. Er lehnte sich zurück und griff sich durch das braune kurze Haar und fragte verzweifelt: "Was kann ich nur tun?"
Flash hörte die Treppe leise knarren und hatte sich innerhalb einer Sekunde wieder in der Gewalt. Er schloß die Verbindung zum Netz und schaltete einen Musiksender ein, auf dem gerade Metall lief.
"Hi, du hast es dir gemütlich gemacht", begrüßte Buzz ihn, als er in den Raum trat. Der junge Mann, Flash vermutete sein Alter zwischen 24 und 27, setzte sich in den Sessel gegenüber. "Wie geht's?"
"Ich habe keine Kopfschmerzen mehr", erwiderte Flash süffisant.
"Ja, Justine ist offensichtlich besser, als ich dachte." Buzz nahm die Flasche Milch, die auf dem Tisch stand und drückte den Aludeckel ein. Er setzte die Flasche an und trank mit lautem Schluckgeräusch daraus. Mit dem Handrücken wischte er sich den Milchrand vom Mund. "Und? ist dir irgendwas eingefallen? Vielleicht dein Name?"
"Kannst mich ja John Doe nennen", grinste Flash erneut.
Buzz schüttelte den Kopf. "Quatsch! Mit so einem Namen kommst du in Seattle nicht weit."
Flash lachte. "War auch nicht ernst gemeint. Nenn mich Flash. Ich glaube zwar, daß das nicht mein richtiger Name ist, aber mir schwant, daß man mich so genannt haben könnte."
"Ja, steht ja auch auf deiner Lederjacke", grinste Buzz. "Flashlight."
Flash schloß die Augen und dachte gar nichts. Aber er empfand den Klang dieses Namens, den Buzz gerade genannt hatte, wie etwas, das immer schon zu ihm gehörte, seit er sich erinnern konnte. Er stand auf und ging kurz in das Zimmer gegenüber. Er kam mit der Lederjacke und den Bikerstiefeln zurück. Er hielt die Jacke so, daß er auf dem Rücken den signalroten Schriftzug lesen konnte.
"Flashlight", murmelte er. "Muß meine Jacke sein. Weiß nicht warum, aber ich kenne die." Er setzte sich aufs Sofa und zog die Stiefel an.
"Okay, Flash", sagte Buzz und beugte sich vor zu ihm. "Jetzt, da du einen Namen hast, solltest du dir überlegen, wie es weitergeht."
"Ich denke, ich sollte vor allem so schnell wie möglich herausfinden, wer ich bin," erwiderte er.
"Und wie willst du das machen?" fragte Buzz. "Du kennst außer mir niemanden hier. Du hast kein Geld, du hast keine Wohnung. Du bist im Moment eine Null, Junge. Ein John Doe eben. Was kannst du? Weißt du das? Bevor du das nicht weißt, geht gar nichts. Hast du eine Sin? Wenn du eine hast, kannst du ganz schnell rauskriegen, wer du bist. Wenn du keine hast, gehe ich davon aus, daß du hin und wieder mit illegaler Scheiße zu tun hast. Aber damit weißt du immer noch nicht, was du gemacht hast. Vielleicht bist du Rigger, die Grundtechnik scheint in dir zu stecken. Vielleicht bist du auch ein Simulant und sollst dich in die Szene einschleichen. Alles schon da gewesen, Junge, t'schuldige, Flash." Buzz stand auf und sah ihn ernst an. "Aber ich will dir was sagen. Ich mag dich irgendwie. Du hast etwas an dir, daß dich sympathisch macht. Und falls du tatsächlich an einer Total-Amnesie leidest, dann will ich nicht derjenige sein, der dich in diese Wildnis da draußen geschickt hat. Da wir nicht wissen, was du alles kannst und nicht kannst, könnte es sein, daß du diesen Tag nicht überlebst." Buzz holte tief Luft.
Flash sah Buzz irritiert an. "Hast du das öfter?" fragte er.
"Was?" kam es verständnislos zurück.
"Solche Worttiraden?" Flash lächelte und stand auf. Er klopfte Buzz auf die Schulter. "Ich finde dich auch nett, Buzz, danke. Kennst du irgend jemanden, einen Decker oder einen Arzt, an den ich mich wenden kann? Vielleicht sollten wir tatsächlich als erstes herausfinden, was alles so in mir steckt."

(5) Stunde 1.479

Leo saß mit Adam Treese in dessen mit Büchern zugerammelten Wohnzimmer. Er hatte bereits das Schachbrett aufgebaut, eine geöffnete Flasche Wein hingestellt und zwei Gläser dazu. Sie erzählte von den Blättern, die Cheng ihr gegeben hatte.
"Cheng sagt, wenn man die Blätter unter sein Kopfkissen legt, würde der Traum, den man in der nächsten Nacht hat, wahr werden." Leo lachte. "Ich kenne das nur mit Scates."
"Was?" fragte Adam und hielt seiner Besucherin zwei geschlossene Fäuste hin.
"Man legt einen Milchzahn oder ein paar Nuyen unter sein Kopfkissen, und am nächsten Morgen hat man Scates oder so." Leo tippte auf die linke Faust.
"Ich glaube, das ist ein kleines bißchen anders." Treese lächelte und drehte das Schachbrett so, daß sich die weißen Figuren nun vor Leo befanden. "Du fängst an."
Sie zog den weißen Bauern von e2 nach e4.
Adam bewegte sein Pferd von g8 nach f6. "Gibt es einen Traum, von dem du dir wünscht, daß er in Erfüllung geht?" fragte er und blickte Leo kurz direkt in die Augen. Sie hielt seinem Blick stand. Sie hatte noch nie ein Problem damit gehabt, diesem Menschen in die Augen zu sehen und die Wahrheit zu sagen. Adam Treese war Leos Seelenheiler, so nannte sie es selbst seit ihrem zehnten Lebensjahr. Als sie ihr fünfzehntes Lebensjahr erreichte, ging sie nur noch einmal in der Woche zu ihm. Als sie zwanzig war, hörte er damit auf, Geld für die Stunde zu nehmen, weil es ihm so zur Selbstverständlichkeit geworden war, Leo auf ihrem Lebensweg zu begleiten, daß er sich regelrecht schlecht vorkam, immer noch für die Gespräche bezahlt zu werden. Später, als Leo bereits die Uhrmacherwerkstatt ihres Vaters übernommen hatte, trafen sie sich nur noch alle zwei bis drei Wochen, um Schach zu spielen und dabei auch zu reden. Manchmal einfach nur so wie jetzt.
"Nach 1.479 Stunden, in denen wir geredet haben, Adam, bin ich mir hundertprozentig sicher, daß Sie wissen, welcher Traum das ist", seufzte Leo und setzte ihren Läufer von f1 nach c4. "Gor wiederzusehen."
Sie sahen sich erneut an. "Waren Sie eigentlich sehr verzweifelt, als Sie erkannten, daß Sie an mir gescheitert sind?" fragte sie.
"Glaubst du das wirklich, Leo?" fragte Treese und zog seinen Bauern von b7 nach b5.
"Ja, das glaube ich", kam es nachdenklich zurück. Sie zog ihren Läufer von c4 nach b3 zurück. "Es ist Ihnen bisher nicht gelungen, mich von Gor zu befreien. Mein sehnlichster Wunsch ist es, ihn wiederzusehen. Sie wissen, daß ich daran glaube, daß das geschehen wird, obwohl jeder glaubt und auch behauptet, daß er seit über zwanzig Jahren tot ist. Glaube steht gegen Glaube."
"Aber es ist der Glaube einer einzigen Person, nämlich dir gegen viele andere Personen." Treese runzelte die Stirn beim Nachdenken darüber, welche Figur er bewegen sollte."
"Der Glaube an ein Wiedersehen ist der einzige Grund, warum ich in dieser beschissenen Welt überlebt habe", kam es abfällig zurück.
Treese zog seinen Bauern von d7 nach d5. "Wie stellst du es dir vor, das Wiedersehen?" fragte Treese ruhig und beobachtete, wie Leo mit ihrem Läufer von b3 seinen Bauern auf d5 schlug. Treese nahm mit seinem Pferd von f6 Leos Läufer von d5. Mit ihrem Bauern von e4 nahm sie wiederum das Pferd von d5.
"Ich würde mich wahrscheinlich totweinen", beantwortete sie die Frage. "Kann man das, sich totweinen?"
Treese setzte seine Dame von d8 auf d5 und stellte Leos Bauern neben das Spielbrett zum Läufer. "Spielen wir mal kurz Räuberschach", konstatierte er und schmunzelte. "Ich denke schon, daß es das gibt", ging er auf ihre Frage ein." Du stehst übrigens im Schach. Man nennt das dann vermutlich, an gebrochenem Herzen gestorben sein."
"Wieso Schach?" Leo konnte keine Schachposition entdecken, in der sich ihr König befand.
"Nach deinem nächsten Zug", erklärte er.
"Gebrochenes Herz, ich weiß nicht. Ich glaube, ich könnte einfach nicht mehr aufhören zu weinen." Leo zog ihren Bauern von c2 nach c4. "Gardé."
Treese stellte seine Dame von d5 auf e5. "Sag ich doch - Schach."
Leos Dame zog von d1 nach e2. "Gardé."
Treese zog seinen Bauern von f7 auf f6, um die Dame zu decken.
"Okay, dann muß ich wohl in die Offensive gehen", meinte Leo. Sie zog ihr Pferd von g1 auf f3 und bot erneut gardé.
"Und wenn ich dir glauben würde?" fragte Treese während er seinen Läufer von c8 nach g4 zog.
"Daß Gordon lebt?" Leo lachte laut und sah Treese an. "Wenn Sie mir glaubten, dann hätten wir uns längst gemeinsam auf die Suche nach Gordon gemacht, oder?"
Sie setzte ihr Pferd von b1 nach c3.
Adam reagierte sofort, indem er sein Pferd von b8 auf c6 stellte, als hätte er nur auf Leos Zug gewartet.
"Aber wir haben uns zusammen auf die Suche gemacht, Leo", erwiderte Treese ruhig. "Wir haben uns sogar mehrmals auf die Suche gemacht."
Leo setzte ihr Pferd von c3 auf d5. "Es ist aber nichts dabei rausgekommen. Deshalb glauben Sie mir nicht. Wie sollten Sie auch. Es fehlte ja immer der Beweis dafür, daß Gor noch lebt." Sie beobachtete, wie Treese die große Rochade vollzog. Sein König stand nun auf c8 und sein Turm auf d8.
"Es gibt den Beweis, daß Gordon tot ist, Leo. Darüber haben wir mindestens schon hundertmal in den letzten zwanzig Jahren gesprochen. Oder?"
Sie zog ihren Bauern energisch von h2 auf h3.
Treese nahm seinen Läufer von g4 zurück nach h5.
Leo stellte ihren Bauern unmittelbar von g2 auf g4.
Treese reagierte, indem er seinen Läufer von h5 nach f7 zog. Ohne zu zögern setzte Leo ihr Pferd von f3 auf e5 und schlug Adams Dame. Treese wußte, daß er Leo an einer Stelle getroffen hatte, die gefährlich war. Sobald es darum ging, ihr zu erklären, daß Gordon nun schon seit 23 Jahren tot war, setzte bei ihr irgend etwas aus. Treese nahm ihr Pferd auf e5 mit seinem Bauern vom Spielfeld.
Normalerweise gab sie immer an, wenn sie seine Dame bedrohte. Den Angriff auf ihr Seelenleben mußte er jetzt damit bezahlen, daß er einen Moment nicht aufgepaßt hatte. Leo war offensichtlich ziemlich sauer. Sie zog ihren Bauern von b2 auf b3.
Sie bewegten ihre Figuren einige Minuten lang, ohne miteinander zu reden.
Schwarzer Bauer von g7 auf g6.
Weißer Läufer c1 auf a3.
Schwarzer Läufer von f8 auf h6.
Leos Läufer von a3 schlägt Adams Bauer auf e7.
Adams Pferd auf c6 schlägt Leos Läufer auf e7.
Leos Pferd von d5 schlägt Adams Pferd e7. "Schach." Leo lehnte sich zurück. Sie nahm das Glas, in das Treese etwas Rotwein nachgeschenkt hatte.
"1.479 Stunden?" Adam zog mit seinem König von c8 nach b7. "Soviele schon?"
"Unglaublich, nicht wahr?" Leos Dame von e2 schlug Adams Bauern auf e5. "Und das nur, weil ich mich nicht dem Glauben der anderen anschließen will."
"Also, ich spiele gerne mit dir Schach, Leo." Adam schug mit seinem Läufer von h6 Leos Bauern auf d2. "Und Schach."
"Verdammt." Leos zog ohne nachzudenken ihren König von e1 nach f1 und erwiderte: "Ich auch, Adam."
"Warum muß man dich immer erst herausfordern, Leo?" seufzte Adam und schickte seinen Turm von d8 nach d3.
"Weiß nicht," antwortete sie. "Anfangs bin ich immer unsicher. Ich habe ja nie eine Strategie." Sie schlug den Bauern b5 mit ihrer Dame von e5. "Schach."
"Also, das glaubst aber auch nur du", lachte Adam und zog seinen König von b7 nach a8.
Leo seufzte leise. "Ich kriege Sie, Adam", murmelte sie. "Heute gewinne ich." Sie nahm das halbvolle Glas und trank es in einem Zug leer.
Ganz langsam nahm Leo das weiße Pferd von e 7 und setzte es leise auf c6. Sie blickte auf und lächelte nicht. Adam Treese las in ihren Augen, daß sie ihm böse war. Immer, wenn er sagte, daß Gordon tot war, war sie ihm böse. Sie erinnerte dann an die zehnjährige Leo, die seine Geduld oft genug damit auf die Probe gestellt hatte, indem sie ihn eine Stunde lang anschwieg. Das hatte ihn tatsächlich mehrfach aus der Fassung gebracht.
"Okay", sagte er und legte seinen König hin. "Matt." Er lächelte Leo an. "Hin und wieder schaffst du es immer noch."
"Was?" fragte sie.
"Mich zu überraschen."

(4) Zweites Erwachen

Als Flash aufwachte, hatte er einen völlig trockenen Mund. Seine Kopfschmerzen spürte er nur noch dumpf hinter der Stirn. Eine kleine Lampe brannte auf dem Nachttisch neben dem Bett, in dem er lag. Durch die halbgeöffnete Tür fiel ein Lichtschein. Er hörte leise Stimmen.Vorsichtig setzte er sich auf und stellte die nackten Füße auf den Boden. Er trug nur einen Slip. Über einem Stuhl lag ein Bademantel. Die zwei Meter bis dorthin taumelte er. Das Kleidungsstück paßte wie angegossen. Langsam bewegte er sich zum Zimmer hinaus auf einen unbeleuchteten Gang. Nach rechts traf sein Blick auf eine Wand, links erkannte Flash am Ende des Ganges eine Treppe, die nach unten führte.
Er torkelte geradeaus auf eine Tür zu, die dem Zimmer, in dem er gelegen hatte, gegenüberlag. Hinter der Tür befand sich ein blaues Sofa, auf dem sein rothaariger Retter saß. Neben ihm eine schwarzbepelzte Elfin, die ihm einen erschrockenen Blick zuwarf und sofort aufstand. Sie legte ihm ihre Hand auf die Schulter und sagte: "Du darfst eigentlich noch gar nicht aufstehen. Wie geht es dir?"
"Scheiße", murmelte er und ging auf das Sofa zu. "Total scheiße." Flash setzte sich neben Buzz und fragte: "Hey, Dreadlock, hast du 'ne Zigarette für mich?"
Buzz hielt ihm lachend sein Päckchen hin. "Hey, Justine, wenn er schon rauchen will, dann war deine Behandlung nicht ohne." An Flash gerichtet: "Meine Wenigkeit heißt übrigens Buzz. Es gab leider noch keine Möglichkeit, sich vorzustellen."
Er reichte Flash die Hand, die dieser zwar nahm, aber er sagte nichts. Er starrte Buzz fragend an, griff sich kurz mit der linken an den Kopf, sah Buzz erneut an, dann Justine und flüsterte: "Ich kenne meinen Namen gerade nicht. Ich - hab - irgendwie alles vergessen."
Buzz und Justine warfen sich einen fragenden Blick zu. Buzz holte eine Flasche Wasser unter dem Tisch vor dem Sofa hervor und reichte sie Flash. Justine setzte sich in einen Sessel gegenüber. "Das ist nicht dein Ernst, oder?"
"Ich bin in diesem Müllhaufen aufgewacht und weiß nichts mehr", murmelte er völlig abwesend. "Null, rien, niente!" zischte er. Er nahm seine Hände vors Gesicht und rieb es so, als wolle er den Schlaf der letzten Stunden vertreiben. "Ich kann mich ums Verrecken nicht erinnern."
"Ein John Doe!" rief Buzz. "Du meine Güte, ich wollte immer schon mal einen kennenlernen." Buzz starrte auf den Mann neben sich. "Es muß eine Menge sein, was du vergessen hast. Du mußt mindestens dreißig sein."
Flash lachte plötzlich leicht hysterisch. "Ich finde das völlig verrückt."
"Du hast ehrlich keinen Namen?" fragte Justine.
"Natürlich hab ich einen Namen", kam es sofort zurück.
"Also was jetzt", warf Buzz ein. "Hast du einen oder hast du keinen?"
"Ich habe einen, aber ich weiß ihn nicht", erwiderte Flash nachdenklich.
"Wo hast du gewohnt? Was arbeitest du? Bist du aus Seattle? Oder wo warst du vorher, bevor du nach Seattle kamst? Wo wolltest du hin?" ratterte Buzz herunter.
"Ach, ich bin in Seattle. Ich glaube, da war ich noch nicht." Flash nahm die Wasserflasche und trank sie halb leer. Atemlos holte er mehrmals tief Luft. "Ich habe sogar in meinem Headmem ein großes Loch", grinste er Justine an. "Alles gelöscht." Er legte sich zur Seite gegen die Armlehne des Sofas und schloß die Augen. "Ich bin tierisch müde", kam es aus seinem Mund. "Was habt ihr mir gegeben?" Buzz fing gerade noch die Flasche auf, die Flash aus der Hand rutschte, als er bewußtlos in sich zusammensackte.
Buzz und Justine brachten ihn zurück in sein Zimmer und legten ihn ins Bett. "Ich denke, er braucht mindestens noch 10 Stunden, bis er wieder halbwegs bei klarem Verstand ist." Justine betrachtete die seltsam verkrustete Naht auf der Stirn des Mannes. "Vielleicht erinnert er sich ja, wenn er das nächste Mal aufwacht."

(3) Bonsaitraum

Als Leo um 22:30 Uhr unter der Dusche stand, fragte sie sich, ob sie tatsächlich noch zu Adam fahren sollte. Er hatte zwar gesagt, sie könne gerne vorbeikommen, jedoch behagte es ihr nicht, noch so spät bei ihm vorbei zu fahren.
Als sie in ihrer verwaschenen Jeans, dem alten, abgetragenen dunkelgrünen Rollkragenpullover und barfuß aus dem Umkleideraum auf den unbedachten Vorplatz trat, stand Cheng Pei Pei mitten darin und zupfte von einem Bonsai die vertrockneten Blätter ab. Leo stellte sich neben den kleinen Mann, der genau so groß war wie sie. Ganz leicht berührten sich ihre Schultern.
"Als ich die kleine Eiche damals zum ersten Mal sah, kam sie mir so unglaublich verletzlich vor", sagte Leo. "Sie war so klein und zart. Ich dachte, wie oft es passieren könnte, daß jemand über sie stolpert, weil man sie so leicht übersehen kann. Wenn ich die älteren Schüler beobachtete, wie sie hier draußen trainierten und dem Bäumchen manchmal um Haaresbreite nahekamen, so trafen sie doch nie." Leo dachte einen Moment lang nach, während Cheng weiterzupfte, ohne sie anzusehen.
"Es dauerte fast ein Jahr, bis ich begriff, daß sie ganz bewußt an dieser Stelle angehalten hatten", sprach Leo weiter. "Ich fragte mich, wie groß die Angst des kleinen Baumes sein mußte bei so vielen Angriffen. Eine Antwort darauf fand ich erst ein weiteres Jahr später, als ich zum ersten Mal selbst hier draußen trainieren durfte. Ich fand heraus, daß der Bonsai keine Angst hat."
Leo schaute gebannt dem sanften Zupfen ihres Meisters zu. Die Bewegungen seiner Finger ähnelten sehr denen ihres Vaters, wenn er an den winzigen Uhrwerken herumgezupft hatte und gleichzeitig ihr und Gorden von dem Phänomen Zeit erzählt hatte.
"Es gibt eine Legende, in der gesagt wird", der alte Mann machte eine kleine Pause und zupfte ein weiteres Blatt ab, "daß man die zu Laub gewordenen Blätter einer solchen Eiche unter sein Kopfkissen legen soll, auf das man sich bettet. Der Traum, den man in dieser Nacht träumt, wird angeblich wahr."
Cheng Pei Pei drehte sich Leo zu und hielt ihr seine geschlossene rechte Faust hin, in der sich die abgezupften winzigen Blätter befanden. Leo öffnete und legte ihre Hände wie zu einer Schale geformt unter die Hand Chengs. Vorsichtig gab der alte Meister seiner Schülerin das Laub und lächelte.
Leo lachte verhalten zurück. Sie nahm die Blätter in die rechte Hand und zog mit der linken das schwarze Seidentuch aus ihrer Hosentasche. Sie hockte sich hin, legte das Tuch auf den Boden und streute die Blätter auf das Tuch. Sie knotete die Seide zusammen und nahm sie in die Hand. Als sie aufstand, sah sie Cheng direkt in die Augen.
"Was würdest du tun, wenn ich dir nicht mehr vertraute, Cheng?" fragte sie.
"Ich würde dich wahrscheinlich töten", antwortete dieser so schnell, daß es Leo überraschte. Sie trat zwei Schritte zurück.
"Warum fragst du mich das, Leo?" Chengs Gesicht blieb die Fassade, die es immer wahrte, wenn er zutiefst berührt war.
Leo senkte ihren Blick und betrachtete den Boden vor ihren Füßen. "Manchmal habe ich Angst davor, mein Vertrauen zu verlieren", antwortete sie. Cheng schwieg. Eine kurze Pause entstand. "Wann werde ich ...?"
"Das wirst du wissen, wenn es soweit ist", unterbrach er sie.
Der alte Chinese lächelte. "Du solltest dich vor allem in Geduld üben, Leonore Pinkerton. Geduld ist das Maß deiner Konzentration."
Leo deutete eine Verbeugung an und drehte sich um. Cheng wandte sich sofort wieder dem Bonsai zu, als seine beste Schülerin langsam über den großen Platz nach draußen ging. Als sie durch die Tür hindurch war, schlüpfte sie in ihre leichten Lederstiefel und verließ nachdenklich das Gelände der Schule.

(2) Erstes Erwachen

Als er aufwachte, fiel sein Blick auf vier Müllcontainer, um die herum und auf denen unzählige Tüten aufgetürmt waren. Zahlreiche Ratten liefen darauf herum, durchwühlten mit ihren winzigen Pfötchen Papier, Dosen, Plastik und jede Menge verschimmelte Lebensmittel, deren Abholung schon einige Tage überfällig war. Emsig schnupperten die kleinen Näschen hier und dort und konnten sich nicht so recht entscheiden, welchen der vielen Leckerbissen sie nehmen sollten. Die Ratten fauchten sich an und schnappten nacheinander. Noch bevor die Ratte es überhaupt registriert hatte, befand sich eine von ihnen in seiner rechten Hand, als sie auf seine Brust sprang.
Vor seinem rechten Auge sah er eine Ziffernfolge rot aufleuchten. 19.23.7135413. Er konnte sich an gar nichts erinnern. Weder,wie er in diesen stinkenden Müllhaufen geraten war, noch wo er herkam, geschweige denn, daß ihm auch nur ein Detail seiner kompletten Vergangenheit einfiel. Er hatte ein Loch im Kopf, das mit nichts gefüllt war außer dem, was er gerade dachte.
"Interessant", dachte er laut. "Ich erinnere mich an nichts, aber ich erinnere mich daran, daß es ein Gedächtnis gibt."
Er setzt sich auf und hielt die sich windende Ratte ganz nah vor sein Gesicht. Es war ihr kaum möglich, den Kopf zu bewegen, so eng umschlungen hielt die große Hand den kleinen Körper. "Weißt du, daß ich dich einfach so zerquetschen könnte", grinste er den Nager freundlich an. "Ich könnte dir auch den Kopf abbeißen. Mein Name ist Flash Light, und das bedeutet, daß..."
Er sprang auf und ließ die Ratte einfach fallen. "Das bedeutet, daß ich mich an meinen Namen erinnere." Er griff sich an die Stirn und stöhnte auf, weil ihn ein Schmerz durchfuhr, der ihm sagte, daß sich an seiner Stirn eine Wunde befand, von der er bisher auch nichts gewußt hatte. Seine Finger tasteten vorsichtig. Eine dicke Kruste deutete darauf hin, daß er sich vor nicht allzu langer Zeit eine Kopfverletzung zugezogen haben mußte.
"Scheiße!" fluchte er und stand langsam auf. Er klopfte sich Schmutz von der Jeans ab, den er nicht sehen konnte. "Restlichtverstärker", murmelte er. Im selben Moment wurde es um seinen Oberschenkel, den er betrachtete, sichtlich heller. "Interessant."
Während er wie leicht betrunken zur Gasse hinaus Richtung Straße schwankte, griff er in sämtliche Taschen seiner Jacke, die er trug. Er fand nichts außer zwei Cornyriegeln. "Soyfraß", raunte er und blinzelte, weil das Licht der Straßenlaterne ihn blendete. Er wendete sich nach rechts und ging auf ein Schaufenster zu.
"Damenreizwäsche", las er die großen Lettern, von denen die grüne Farbe bereits abblätterte, so alt schienen sie zu sein. Flash mußte sich etwas herunterbeugen, um sich im Glas der Fensterscheibe vor einem schwarzen Hüfthalter spiegeln zu können. Er erkannte die Wunde an der Stirn nur als schwarzen Strich. Aber er sah, daß sie sich von der Schläfe über die Stirn bis zur Augenbraue zog. Sie schien ziemlich frisch genäht zu sein.
Plötzlich fiel ihm ein, daß er vielleicht eine Tasche oder etwas ähnliches bei sich gehabt haben könnte. Deshalb ging er noch einmal zurück zu den Mülltonnen. Er begann vorsichtig, in dem Müllhaufen vor den Tonnen herumzusuchen, ob er etwas fand. Er nahm das Geräusch des Abzugs noch vor dem Schuß wahr. Das rettete ihm das Leben, weil er sich zwischen Abzug und Schuß geduckt hatte, wodurch Buzz, den die abgeschossene Kugel eigentlich hätte treffen sollen, die jetzt aber über ihn hinwegzischte und ein anderes Ziel fand, stolperte. Andersherum gesagt - Buzz stolperte über Flash, weil der eine nicht im Dunkeln mit dem anderen gerechnet hatte. Buzz wußte nicht, daß Flash ihm das Leben gerettet hatte. Er wußte nicht, daß Flash zufällig einer von den fünf lebenden Menschen war, die über die Fähigkeit verfügten, in Gefahr so schnell ragieren zu können, wie es eben vom Klicken des Abzugs bis zum Knall des Schusses dauert.
Flash stand schneller wieder auf als Buzz. Eine Kugel pfiff gefährlich nah an seinem Kopf vorbei. Er griff nach dem am Boden liegenden Mann und zerrte ihn hoch. Der rannte sofort los und Flash hinterher. Er dachte nicht darüber nach, was er tat. Er dachte, daß Buzz wissen mußte, wo sie sich befanden und wohin er wollte, weil er sich so zielstrebig durch die Gassen und Hinterhöfe des Viertels bewegte.
Irgendwann stieß Buzz eine Tür auf und schob ihn eine Treppe hinunter. Flash stolperte und landete unsanft auf dem Steinboden davor. Es war dunkel. Sie atmeten nicht. Draußen waren Schritte zu hören. Er spürte eine Hand, die ihn mit sich zog. Langsam tasteten sie sich einen Weg durch die Dunkelheit. Es roch nach Schimmel und Feuchtigkeit, die man in uralten Kellern findet, deren Wände Jahrzehnte lang nicht geweißt worden waren.
"Lichtverstärker", flüsterte Flash und sah im Dunkeln am Boden eine Spinne vorbeihuschen.
"Was?" kam es von Buzz.
"Ich habe Lichtverstärker", antwortete er.
"Sowas brauch ich hier nich", meinte Buzz. Der Gang is mein üblicher Nachhauseweg."
"Bist du immer auf der Flucht, wenn du nach Hause gehst?" fragte Flash und blieb stehen. Er griff sich mit der linken Hand an den Kopf und stöhnte laut. Das Hämmern hinter seiner Stirn war so heftig, daß ihm schlecht wurde und er würgen mußte.
"Hast du was abgekriegt?" fragte Buzz nervös.
"Nein, nur höllische Kopfschmerzen." Flash war schwindelig.
Buzz öffnete eine Tür, die rechts von ihnen aus dem Nichts aufgetaucht war. Sie betraten ein Treppenhaus, dem man ansah, daß es vor langer Zeit seine besten Zeiten erlebt hatte. Buzz führte ihn in eine Wohnung im Erdgeschoß. Flash nahm noch wahr, daß Buzz knallrote Dreads hatte, die ihm bis zur Hüfte gingen. Dann kippte er einfach um.

(1) Dämmerung


Es regnete. Der Himmel über Seattle war so wolkenverhangen, daß es unmöglich war, sich vorzustellen, daß es Tage gab, an denen tatsächlich die Sonne schien. Leo zog drei Schubladen auf, bevor sie in einer vierten zu wühlen begann. Sie zog ein schwarzes Seidentuch hervor, schlug es mit beiden Händen glatt und faltete es in der Mitte zu einem Dreieck. Mit seit Jahren geübtem Griff schlug sie es sich um den Hals, griff schnell nach einem kleinen Parfümfläschchen, besprühte sich rechts und links unter dem Ohr und eilte aus dem Zimmer. Sie hüpfte fast die Treppe hinunter und ging in die Küche. Sammy saß am Tisch und las in einem Buch während er Cornflakes aß. Leo warf ihm einen leicht mißbilligenden Blick zu. Sie haßte das laute crunchende Geräusch, daß Sam beim Essen machte. Vor allem deshalb, weil er es besonders laut beherrschte und es auch tat.
"Gehst du?" fragte er, ohne von seinem Buch aufzusehen.
"Ja."
"Wann kommst du zurück?
Vielleicht nie, dachte Leo und antwortete. "Keine Ahnung."
Sammy sah auf. Ihre Blicke trafen sich wie so oft in letzter Zeit nur kurz. "Geht es dir gut?" fragte er.
"Ja, Sammy." Sie drückte ihm einen Kuß auf die Wange. "Mach's gut, Kleiner." Sie schnappte sich ihre Trainingstasche und verließ das Haus.
Schnellen Schrittes ging sie zu ihrem alten Ford, öffnete die Fahrertür, warf die Tasche auf den Beifahrersitz und ließ sich hinter das Lenkrad fallen.
"Weißt du, Honnecker", sagte sie, als sie die Tür mit voller Wucht zuzog. "Manchmal denke ich, mein Leben könnte viel einfacher sein."
Niemand saß im Auto außer Leo. Sie nannte den Wagen Honnecker, weil er schon Honnecker hieß, als ihr Vater ihn 2023 von seinem Vater übernahm. Honnecker war ein Familienauto. Der Großvater hatte es 1998 von einem Gebrauchtwagenhändler gekauft und Honnecker, aber niemand wußte, warum.
Der alte Ford hatte schon einiges mitgemacht. Einen Unfall verursachte der Großvater selbst. Achtzehn Jahre später saßen Leo, ihre Eltern und zwei ihrer Brüder darin, als der Motoradfahrer direkt in sie hinein fuhr. Der letzte Unfall lag sieben Jahre zurück, als Leo mitten auf der Interstate, zum Glück nur mit 90 km/h, der rechte Vorderreifen platzte. Honnecker schlidderte etwa 50 Meter an der Leitplanke entlang, bevor er zum Stehen kam. Seitdem brauchte der Wagen immer drei Anläufe, bis der Motor lief.
Leo verließ Takoma, die Gegend, in der sie wohnte, über kleine verwinkelte Gassen, bis sie die Auffahrt zur Interstate erreichte. Ihr Ziel war Renton, wo sich das Dojo befand. Für andere weniger antiquierte Autos dauerte die Fahrt dorthin nur eine viertel Stunde. Honnecker legte die Strecke in einer halben Stunde zurück. Er war kein normales Auto. Er war alt.
Um 20:30 Uhr setzte die Dämmerung ein. Allerdings fiel das an diesem Tag weniger auf. Man hätte auch meinen können, Seattle sei im Dauerdämmerzustand, weil sich der bedeckte Himmel nach der Morgendämerung nicht aufgeklärt hatte. Leo fragte sich, ob es vielleicht inzwischen so war, daß es gar keinen Tag mehr gab, sondern nur noch einen Zustand zwischen Tag und Nacht.